Zu Tausenden leben sie in unserem Darm (und unseren Fäkalien). Da wuseln die Winzlinge, spalten Nahrungsfasern für uns auf, spucken Gase aus, produzieren eine Menge Chemikalien. Die Rede ist von unseren Darmbakterien. Wer hier eine ausgewogene Gemeinschaft einzelliger Lebewesen beherbergt, hat einige gesundheitliche Vorteile. Und kann vielleicht sogar seine Kacke bald teuer verkaufen.
Die Medizinstudentin Giulia Enders war die Erste, die 2014 unsere Aufmerksamkeit auf das Thema gelenkt hat- in Form eines leichtverdaulichen und vielfach verkauften Buchs mit witzigen Zeichungen, die von einem Kind stammen könnten. Der Darm und seine Mikroorganismenbesiedelung ist momentan eines der grossen Themen in der medizinischen Forschung und wird es in den nächsten Jahren höchstwahrscheinlich auch bleiben. Denn die Forscher haben gerade erst damit begonnen, die Bewohner der zottigen und zerfurchten Gegend Darm zu identifizieren. Ein schwieriges Unterfangen, da es sehr viele sind und sie sich von Mensch zu Mensch stark unterscheiden können. Hochinteressant und lohnend wird es aber garantiert, das versprechen schon die bisherigen Erkenntnisse-und neue werden laufend gewonnen.
Mindestens tausend verschiedene Einzeller pro Darm
Mikrobiom ist die Bezeichnung für die Gesamtheit der menschlichen Besiedelung mit Mikroorganismen, und deren Gene. “Human Mikrobiome Project“ heisst entsprechend das Forschungsprojekt zur Erfassung der gesamten Erbinformation der auf dem Mensch lebenden Bakterien. Mindestens tausend verschiedene Einzeller sollen es pro menschlichem Darm sein. Bakterien machen davon über 90 Prozent aus. Aus diesem Grund konzentrieren sich die meisten Forscher -in erster Linie Gastroenterologen -auf die Bakterien im Darm.
Das Mikrobiom wird unter Experten mittlerweile als Organ angesehen, das den Stoffwechsel und das Immunsystem mitreguliert oder sogar, zusammen mit den menschlichen Genen und dem Immunsystem, eine der drei Säulen der Gesundheit darstellt.
Seit 2010 wurden etwa dreizehn Millionen Gene von Darmbakterien mit biotechnologischen Methoden sequenziert, das heisst aufgeschlüsselt.
2014 wurden Gene aller Darmbakterien von über tausend Versuchspersonen europäischer, amerikanischer und chinesischer Herkunft erfasst. Das entspricht einer enormen Menge von Daten: das Mikrobiom jeder Versuchsperson enthält etwa dreissig mal mehr Gene als der bewohnte Mensch selbst. Diese Gendatensammlung klingt nach viel Wissen: Tatsächlich “sind mit dieser Datensammlung die Gene der menschlichen Darmbakterien bereits nahezu komplett erfasst“, schreibt der Gastroenterologe Andrew Shreiner 2015 in einem Übersichtsartikel des Fachjournals „Current Opinion in Gastroenterology“.
Wie eine ideale Zusammensetzung von Darmbakterien aussieht, weiss man aber (noch) nicht. Die Forscher wissen nicht einmal, ob es mehr Sinn macht, Bakterienfamilien oder einzelne Exemplare anzuschauen. Mitglieder derselben Familie können manchmal sehr unterschiedliche Wirkungen auf ihren Gastgeber haben: die einen sorgen dafür, dass wir uns fantastisch fühlen, die andern machen Stunk.
Immerhin weiss man schon, dass die Mehrheit der Darmbakterien von bloss fünf Stämmen mit den Namen Firmicutes, Bacteroidetes, Actinobacteria, Proteobacteria und Verrucomicrobia gestellt wird.
Davon abgesehen scheint eine grosse Vielfalt an Bakterien vorteilhaft zu sein: bei vielen Krankheiten, die mit dem Darm zusammenhängen, findet man eine eingeschränkte Diversität an Darmbakterien.
Bei Krankheiten: Mikrobiom Täter oder Opfer?
Allerdings ist es bei Erkrankungen schwierig, auszumachen, wer sich zuerst verändert. Mensch oder Bakterien? Wird der Mensch zuerst krank, und dann ändert sich sein Mikrobiom, oder verändern sich erst die Darmbakterien, und machen dann “ihren“ Menschen krank? Auf jeden Fall gibt es Zusammenhänge zwischen Darmbakterien und Krankheiten wie Reizdarmsyndrom, entzündlichen Darmerkrankungen wie Morbus Crohn, Fettleber, Fettleibigkeit und metabolisches Syndrom, Autoimmunerkrankungen, neuropsychiatrischen Störungen und einigen mehr.
Dass auch psychiatrische Störungen mit dem Darm zusammenhängen können, mag erstaunen, doch es gibt eine direkte Verbindung zwischen Darm und Hirn, den Vagusnerv. Über den Vagusnerv können Informationen vom Darm ins Gehirn gelangen. Unsere wichtigsten Informationszentralen sind Hirn und Bauch, und sie interagieren in beide Richtungen miteinander. Sie tun das über Neurotransmitter, chemische Botenstoffe, die sowohl von Darmbakterien wie vom Menschen selbst hergestellt werden. Neurotransmitter sorgen für die Signalübertragung von einer Nervenzelle zur nächsten.
Darmbakterien setzen zudem kurzkettige Fettsäuren aus Nahrungsfasern frei. Damit regulieren sie in erster Linie das Immunsystem auf eindrückliche Weise -und liefern der Leber Energie. Diese Fettsäuren können aber ebenfalls neuroaktiv wirken und das Zentralnervensystem beeinflussen.
Darmbesiedelung beeinflusst das Gehirn massgeblich
Signale aus dem Darm können in einige, aber nicht in alle Hirnbereiche gelangen. Vereinfacht formuliert in Bereiche, die für das “Ich-Gefühl“, die Gefühlsverarbeitung, Moral, Angstempfinden, Gedächtnis und Motivation zuständig sind. Diese Hirnbereiche werden über verschiedene biochemische Mechanismen reguliert. Bei allen aber spielen die Darmbakterien eine wichtige Rolle.
2014 zeigten Versuche der Forschungsgruppe um Viorica Braniste vom Karolinska Institut in Schweden an Mäusen, dass das Darmmikrobiom zudem die Blut-Hirn-Schranke mitreguliert. Die Blut-Hirn-Schranke ist eine Art Filter zwischen Körper und Gehirn, die bestimmt, welche Substanzen in welchen Mengen ins Gehirn gelangen.
Die Macht der Darmbevölkerung ist gross- und gibt Hoffnung für neue Behandlungsansätze nicht nur bei Darmerkrankungen, sondern auch bei Depressionen und Angststörungen, vielleicht sogar bei Autismus, wie der Medizinnobelpreisträger Luc Montagnier und andere Autismusforscher überzeugt sind.
Medizinische Behandlungen zur Veränderung des Mikrobioms stehen noch am Anfang
Wie aber wird die Darmbakteriengemeinschaft medizinisch beeinflusst?
Antibiotika killen bekanntlich auch Bakterien im Darm-in einer laufenden Studie mit autistischen Kindern zeigt eine spezifische Antibiotikabehandlung vielversprechende Ergebnisse. Wahrscheinlich existiert ein Zusammenhang der Erkrankung mit mindestens einem infektiösen Bakterium im Darm der Kinder-Suterella ist ein Kandidat, der in diesem Zusammenhang verdächtigt wird.
In den meisten anderen Fällen, in denen eine Antibiotikatherapie eingesetzt wird, ist es eine unerwünschte Nebenwirkung, dass damit auch Darmbakterien ausgelöscht werden. Je nach Antibiotikum kann es bis zu neunzig Prozent der Darmbevölkerung treffen. Die Bakteriengemeinschaft erholt sich zwar meist von selbst, aber ob sie sich dabei gar nicht verändert, lässt sich nicht genau sagen.
Was einzelne Bakterien in der grossen Gemeinschaft ausrichten können, ist ebenfalls noch unklar. Studien, in denen zur Behandlung von Krankheiten einzelne Bakterien als Nahrungsergänzung eingesetzt wurden, zeigen dementsprechend bisher gemischte Resultate und sind spärlich.
Fettlebern konnten erfolgreich mit Bifidobakterien behandelt werden. Bei alkoholgeschädigten Lebern half eine Therapie mit Bifido-und Laktobazillen nur mässig. Die restlichen Studien mit Probiotika (Bakterien enthaltenden Mitteln) zum Zusammenhang zwischen Hirn und Darm wurden bisher grösstenteils erst an Mäusen und Ratten durchgeführt. Bei diesen wirkten Bazillen wie der Lactobacillus plantarum antidepressiv, der Lactobacillus helveticus angstlösend und das Bifidobakterium longum verringerte Stresslevel und Ängstlichkeit der Nager.
Auch gewisse Nahrungsfasern wie B-galactooligosaccharide (B-GOS), die das Überleben und die Ausbreitung bestimmter Bakterien im Darm fördern, zeigten bei Ratten eine antidepressive und angstlösende Wirkung. Solche Stoffe, die keine Bakterien beinhalten, aber einige der bereits im Darm vorhandenen fördern, werden als Prebiotika bezeichnet. Prebiotika zeigten in einer Mäusestudie von 2014 auch lindernde Wirkungen auf autistische Symptome.
Behandlung mit Stuhl von Spendern bei Infektionen
Als Alternative zu einzelnen Bakterien bietet sich die Behandlung mit einer Darmbakteriengemeinschaft als Ganzes an. Bereits durchgeführt werden daher bei gewissen Erkrankungen Stuhltransplantationen -mit dem Zweck der Transplantation der darin enthaltenen Darmbakterien. Etwa ein Drittel der festen Bestandteile von Stuhl sind Bakterien.
Die Stuhltransplantation hilft zum Beispiel bei chronischen Clostridium Difficile Infektionen und wird in den USA und in Europa durchgeführt, wenn Antibiotikabehandlungen versagen. Vor einiger Zeit gab es in den USA einen einzelnen Fall, in dem eine Patientin übergewichtig wurde, nachdem sie wegen einer solchen Infektion Stuhl ihrer übergewichtigen Tochter erhalten hatte. Die Frau ist zwar von der Infektion geheilt, hadert jetzt aber mit ihrem Gewicht.
Das Beispiel der Frau aus Rhode Island, die von der Gastroenterologin Colleen Kelly am Miriam Hospital behandelt wurde, deutet zusätzlich auf einen engen Zusammenhang zwischen Darmbewohnern und Stoffwechsel hin.
Da die “Operation“ im Grunde so simpel ist, rechnen Experten damit, dass einige Personen möglicherweise in Eigenregie Stuhl verpflanzen werden. Mit dem Ziel abzunehmen, beispielsweise. Vorsicht ist aber in Bezug auf psychische Erkrankungen oder Prädispositionen geboten, die durch Stuhltransplantationen möglicherweise ebenso übertragen werden.
Die Kacke von -psychisch wie physisch- unbeschwerten Personen könnte also bald Gold wert sein. Aber nur die.